Kultur

Die Künstler des Widerstandes

Atis Rezistans und die Ghetto Biennale in Port-au-Prince

Wieviel Kraft benötigt ein Volk nach wiederholten Schicksalsschlägen, den Kampf um das Überleben erneut aufzunehmen? Eine rhetorische Frage fassungsloser, hilfloser Außenstehender ohne irgendeine Antwort. Vor allem dann, wenn wir über das bitterarme Haiti sprechen, das Erdbeben im Jahre 2010, das nach amtlichen Angaben über 200.000 Tote hinterließ, fast zwei Millionen Obdachlose forderte und einer von UN-Truppen eingeschleppten Cholera, die sich zur Epidemie ausweitete.

Und nun dieser Hurricane Matthew 2016, der das kaum erholte und nur partiell aufgebaute Land wieder dem Erdboden gleich macht, die Ernte vernichtet und die Menschen erneut vor dem Nichts stehen lässt. Mit dem Mut der Verzweiflung trotzen die Haitianer dem Schicksal auf unterschiedliche Weise. Zu einem kleinen Lichtblick in dieser Misere entwickelt sich die Ende 2009 ins Leben gerufene "Ghetto Biennale", eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die wie das Wort Biennale sagt, jedes zweite Jahr stattfindet.

Wissenschaftliche Theorien besagen, dass Kreativität aus der absoluten Verzweiflung oder dem Willen Dinge zu ändern, d.h. aus einem Gestaltungswillen entspringt und daraus wiederum Innovation. In der Not verlassen wir gewohnte Wege des Denkens, wir entwickeln neue Sichtweisen, wir improvisieren und wir entwickeln in kurzer Zeit viele Ideen.

Im verarmten alten Downtown von Port-Au-Prince und seiner Hauptstraße "Gran Ru", bereits früher ein Zentrum des Handwerks für Schweißer, Holzschnitzer und Möbelschreiner, werden die Bildhauer der Künstlergruppe Atis Rezistans die "Widerstandskünstler", die Erfinder und Gastgeber ihrer eigenen Kunst-Biennale. Sie sehen sich als Ghettokünstler, die nach eigenen Aussagen mit dem Müll der Welt arbeiten, ihm eine neue Bedeutung geben, und nun die gefragtesten Künstler Haitis mit Werkschauen in New York, London oder Paris sind.

Einer der Katalysatoren für diese Idee, selbst Künstler, Filmemacher, Akademiker, Fotografen, Musiker, Architekten oder Schriftsteller aus der ganzen Welt in die Grand Rue, nach Haiti einzuladen, war sicherlich der folgende Spannungszustand:

2004 ist eine Gruppe von Künstlern zur Teilnahme an der Ausstellung Haitianischer Kunst im Museum "Frost Art" in Miami eingeladen. Ihre künstlerischen Arbeiten werden verschifft und stehen für die Ausstellungseröffnung bereit, nur die Künstler selbst nicht, denn sie erhalten von der US-Botschaft keine Einreiseerlaubnis. Dieses Ereignis und der stetige Umstand, nur im Kreis von Wohltätigkeitsveranstaltungen sichtbar zu sein, geben den Ausschlag für ein eigenes, selbstbewusstes Konzept, das die immer negative Wahrnehmung Haitis und seiner Menschen durchbrechen sollte.

Die Gran Rue wird 2009 das erste Mal zur Freiluft-Galerie inmitten der politischen und wirtschaftlichen Leere der Hauptstadt. Die Künstler "recyclen", kreieren Figuren aus Autoreifen, ausrangiertem Spielzeug, sprich aus allem, was andere entsorgen. Sie erschaffen mit der Galerie einen künstlerischen Raum, in dem Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund mehrere Wochen motiviert werden, zusammen zu philosophieren und Ideen miteinander zu teilen, um am Ende des Events mit einer Ausstellung abzuschließen. André Eugène wie auch andere Gründer von Atis Rezistans haben es verstanden, sich so vor Ort unter ihren Lebensbedingungen eine Öffentlichkeit zu verschaffen und einen Austausch möglich zu machen, der sonst nicht stattfinden würde.

Und mit was für einer Genugtuung wird die Künstlergruppe wohl die Tatsache bewertet haben, dass sie 2011 das erste Mal überhaupt einen haitianischen Pavillon auf der weltberühmten Biennale in Venedig bespielte. Das stark von Voodoo inspirierte Thema hieß Tod und Fruchtbarkeit und passte in zwei Frachtcontainer, die als Ausstellungsräume direkt am Kai dienten, und denen teure, dort ankernde Yachten einen ironisch kontrastierenden Rahmen verliehen. Drei der Künstlergruppe Atis Rezistans, André Eugène, Jean Herard Celeur und Claude Saintilus zeigten schrille bildhauerische Kollagen von Menschen, die aus Maschinenteilen oder dem Innenleben eines Computers und menschlichen Schädeln gefertigt wurden, und die die Gesellschaft, Kultur und Religion Haitis spiegeln sollten.

Das Haiti ein wunderbares kulturelles Erbe besitzt, mit Künstlern, die als die lebendigsten und kreativsten im karibischen Raum gelten, ist durch Atis Rezistans und die Ghetto Biennale vier Mal seit 2009 ins Licht der Weltöffentlichkeit gerückt und damit eine Form von Kultur-Tourismus geschaffen worden. Nun bleibt es zu wünschen, dass in 2017 der schon lang ersehnte Neuanfang des Landes tatsächlich stattfindet und mit ihm die 5. Ghetto Biennale.

Yvonne Steiner, BRS Dortmund, Oktober 2016   

Quellenhinweis:
www.ghettobiennale.org
http://www.deathandfertility.org/artists
Philipp Lichterbeck, Der Tagespiegel 24.06.11
"Gede Militiye" von Andre Eugene 2009
Foto: Leah Gordon
"Gede Militiye" von Andre Eugene 2009
Kultur

Gegen das Licht

Der Künstler Mario Benjamin

Photo by Roberto StephensonKontrastierend positioniert sich Mario Benjamin, der eine große Aufmerksamkeit verdient. Wenn er nur noch Werke schaffen dürfte, so betont er, die andere Leute absolut nur mit Haiti identifizierten, dann würde er vorziehen, kein Künstler mehr zu sein. 1964 in Port-au-Prince geboren, ist Benjamin einer der führenden zeitgenössischen Kunstschaffenden seines Landes Haiti. Er wehrt sich gegen jegliche Klischees und gegen konventionelle Rahmen, die ihm nur die Möglichkeit lassen, im haitianischen, traditionellen Kontext wahrgenommen zu werden. „Kunst ist universal und jeder Artist hat seine eigene Sprache“, erklärt Benjamin.

Verschiedene Werkstoffe lernt der bildende Künstler durch seinen Vater kennen, einem Architekten. Er nutzt Video- und Multi-Media Installationen, Holz und Plastik genauso wie die klassische Malerei, um Themen wie Identität und Ethnizität anzusprechen. Allerdings liefert er ungern viele Erklärungen zu seinen Werken, er bevorzugt es, dem Betrachter Spielraum zu lassen. Vorgefasste Meinungen provozieren ihn; er nimmt diesen Ball auf und nutzt alltägliche Materialien und Gegenstände seiner Heimat, um sie verändert in seinen Werken einzusetzen, um ihnen einen neuen Sinn zu geben, um tradierte Assoziationen aufzulösen.

Wie z.B. zur Biennale 2008 in Korea, als der Künstler fünf Kuben auf Laufrollen, gefertigt aus Vinyl, Farbe, Plastik, drei Meter hoch und drei Meter breit, von Kindern im Inneren durch die Straßen von Gwangju schieben lässt. Die Würfel werden über Neonröhren hinterleuchtet. Zu hören ist ein Soundtrack, der den Klang arbeitender Handwerker und akustische Signale wiedergibt. Le Banquet, das Bankett heißt die atmosphärische Installation, die wie ein Scherenschnitt oder wie eine Wand aus filigraner Spitze und alter Schmiedekunst zugleich anmutet. Kleine bunte Fische schwimmen in bauchigen, hell leuchtenden Kaffeekannen. Motive, die oft auf Plastikdecken in der Karibik zu finden sind. „Diese Art bauchiger Kannen, gehört zu meinen Kindheitserinnerungen. Man fand sie in jedem Haushalt“, erzählt Benjamin.

In über 30 Jahren hat der Autodidakt Mario Benjamin mehrfach in Europa, Asien und den USA ausgestellt und repräsentiert Haiti seit 1997 regelmäßig auf den Biennalen von Gwangju bis Venedig weltweit.

Yvonne Steiner, BRS Dortmund, Dezember 2016
Mario Benjamin: LE BANQUET, Gwangju Biennale 2008
Vinyl, paint, plastic, still, casters, neons, sound track - 5 cubes, 3 meter side length
Quelle: Mario Benjamin, Fotos: Aiko Ota, MAP OFFICE
Quelle: Mario Benjamin, Fotos: Marc Lee Steed
Mario Benjamin: LE BOTANIQUE – 2010
Found sounds, sound activated lights, 204 plexis 1m x 1m Brussels - Belgium - 2010
Quelle: Mario Benjamin, Fotos: DR