Marcia Haydée
Eine Brasilianerin begründet mit John Cranco den Ruf Stuttgarts als "heimliche Hauptstadt des Balletts"
Ballett ist stets international, ja universal wie die Musik, ebenso wie die Karrieren der Künstler selbst: Es gilt nicht, woher man kommt, sondern nur, ob man gut ist oder nicht. Ballett-Tänzer sind Cosmopoliten und fühlen sich überall und nirgends zuhause. Eine Aus- und Einwanderung wird gar nicht diskutiert, sondern ist wesentliche Voraussetzung für eine künstlerische Tätigkeit. Jede Company besteht aus verschiedenen Kulturen, die über den Tanz auf einen sprichwörtlichen, gemeinsamen Boden kommen und dort wachsen. Mark Hoskins, Ballett-Tänzer aus Südafrika, beschreibt es so: „Ein Ballett-Tänzer hat seine Heimat da, wo er wächst – er entwurzelt sich nicht, sondern zieht die Wurzel etwas höher … dehnt sie aus, nimmt sie mit …“
Einer der Protagonisten, die perfekt in dieses Bild passt, ist die ehemalige Primaballerina des Stuttgarter Balletts, Marcia Haydée Salaverry Pereira da Silva. Die deutsche Staatsbürgerin schlägt gleich mehrere interkulturelle Brücken. In Rio de Janeiro geboren, studierte sie in London, hat ein Zuhause in Baden-Württemberg gefunden und arbeitet nun die meiste Zeit in Santiago de Chile.
Allerdings ist der Name Marcia Haydée auf besondere Weise mit dem Stuttgarter Ballett und dem südafrikanischen Choreographen John Cranko verbunden. Er hat sie für sein Ensemble 1961 entdeckt. Mit ihm und ihrem langjährigen Tanzpartner Richard Cragun begründet die „Maria Callas des Tanzes“ das sogenannte Stuttgarter Ballettwunder in den 60er/70er Jahren.
Ein Wunder war es wirklich, denn dass gerade dieses Ballett weltweit berühmt wird, und es sich nicht hinter Namen wie dem Bolschoi-Theater oder The Royal Ballett verstecken muss, wurde in den 60ern ganz und gar nicht erwartet, als Haydée das erste Engagement in Stuttgart annahm. Stuttgart, das war das Synonym für die Automobilindustrie, für Weltfirmen wie Mercedes-Benz und Porsche, aber für klassisches Ballett?
Durch grandiose Künstler wie Marcia Haydée, die John Cranko im Nachkriegsdeutschland um sich zu scharen wusste, entwickelt sich das Stuttgarter Ensemble zu der Keimzelle der Kreativität, die sie mit ihrer weltweit renommierten Ballett-Ausbildungsstätte bis heute ist. Auch John Neumeier*1 tanzte bis 1969 in Stuttgart.
Das Ballett wurde zum Exportschlager wie die Stuttgarter Autos, und die Internationalität löste die Stadt aus der "deutschen provinziellen Enge". Die Initialzündung zu dieser Welle des Erfolgs gab der damalige Generalintendant Walter Erich Schäfer, der John Cranko 1961 engagierte. Haydée inspirierte wiederum Cranko wie auch andere Choreographen, die ihr herausfordernde Frauenrollen wie in der gefeierten "Widerspenstigen Zähmung", in "Onegin" oder der "Kameliendame" auf den Leib schnitten. Ob Rudolf Nureyev oder Mikhail Baryshnikov, Haydée tanzte mit allen großen Solisten.
1996 nimmt die Künstlerin Abschied vom Stuttgarter Ballett, das sie nach ihrer aktiven Karriere als Tänzerin, nach dem plötzlichen Tod Crankos 1973, ab 1976 als Ballettdirektorin und spätere Choreographin geleitet hat. Nach 35-jähriger Bühnenpräsenz gab sie ihre letzte Vorstellung als erste Solistin zum Ende der Spielzeit 1995/1996.
Allerdings sollte dieses Ende ein neuer Anfang sein, denn Haydée kann, wie sie selbst sagt, ohne den Tanz nicht leben. Sie kehrt 1998 in mehrfacher Hinsicht auf die Bühne zurück, sie erobert das Tanztheater für sich, "zieht ihre Wurzeln noch etwas höher, dehnt sie weiter aus" und findet eine neue Wirkungsstätte in Santiago de Chile. Die Ballett-Compagnie der chilenischen Hauptstadt, die sie bereits 92-95 leitete, ist nun seit 2003 ihre künstlerische Heimat. Jetzt ist die Künstlerin dort die "Mutter der Compagnie", geht weltweit auf Tournee, sofern sie nicht bei ihrem deutschen Mann auf der Schwäbischen Alb durch Yoga zur Ruhe findet.
Im Juli 2016 ist Marcia Haydée mit fast 80 Jahren mit dem Ballet de Santiago de Chile mit "Zorbas, der Grieche" in Brasilien auf Tournee und wird in Rio frenetisch gefeiert. „Marcia, kehr in Dein Land zurück, geh nicht weg“. Aber wir Deutschen möchte sie "nicht mehr hergeben".
Yvonne Steiner, BRS Dortmund, September 2016
*1 John Neumeier, seit 1973 Ballettdirektor und Chefchoreograph des Hamburger Balletts, seit 1996 Ballettintendant der Staatsoper in Hamburg und Gründer der Ballettschule des Hamburger Balletts.
Gundel Kilian
Die "Grande Dame der Ballettfotografie", wie Gundel Kilian oft genannt wird, hat über viele Jahre das Stuttgarter Ballett fotografisch begleitet. Die Affinität liegt auf der Hand. Nach dem Krieg absolvierte sie beim Württembergischen Staatstheater Stuttgart ein Ballettstudium, wo sie auch bis 1953 tanzte. In jenem Jahr 1953 wandelte sich ihr Blickwinkel von der aktiven Tänzerin zur beobachtenden. Sie heiratete Hannes Kilian, bereits seinerzeit einer der bekanntesten Fotografen in Deutschland und machte bei ihm eine fotografische Ausbildung. Seit 1954 verfolgt und dokumentiert sie als freie Theater- und Ballettfotografin die Szene.