Designexplosion in Orange, Braun, Gelb oder Grün
Das Bad der 70er Jahre als Symbol des gesellschaftlichen Wandels
Schaurig schön sind die Erinnerungen an das Design der 1970er Jahre. Alles war schrill, psychedelisch "knallig" in der Farbkombination, nur der Flokati-Teppich erstrahlte in Weiß. Orange, Braun, Gelb oder Grün eroberte die Fläche und Luigi Colani Sanitär das Bad mit Frottee-Gardinen, WC-Vorleger und Plüsch zum Schutz des WC-Sitzes. Vielleicht ließ dieses Bad Karl Lagerfeld zur Sonnenbrille greifen, man weiß es nicht.
„Das Ende der Nasszelle“, so tituliert ein Artikel der Neuen Zürcher Zeitung im Januar 2016. Das Bad gleiche immer mehr einem Wohnzimmer. Diese Entwicklung hat bereits in den 70er Jahren begonnen. Damals veränderte sich das Bad von einem funktional-rationalen Waschplatz hin zu einem Ort der "der persönlichen Entfaltung" für die breite Masse. Nicht so sehr wie heute, wo wir uns mit Aroma- und Lichttherapie, beheizten Toilettensitzen und Regenduschen in einen Zustand meditativer Versenkung versetzen können.
Mode, Architektur, Design und gesellschaftliche Trends stehen in Korrelation zueinander. Das Streben nach Veränderung, die Revolte der Jugend gegen die Enge der biederen, verkrusteten Nachkriegsgesellschaft begann in der Bundesrepublik in den 60ern und manifestierte sich in den 70er Jahren. Die Gesellschaft suchte politische, künstlerische, soziale und sexuelle Freiheiten und blühte auf wie die Pril-Blumen*1 in Küche und Bad.
„In der BRD tragen Studentenrevolution und Feminismusdiskussion wesentlich zu einer Liberalisierung der Gesellschaft bei. Erst seit 1977 beispielsweise ist es westdeutschen Frauen gesetzlich gestattet, auch ohne Einverständnis des Ehemannes erwerbstätig zu sein“, so Roman Passarge, Kurator der Ausstellung "Das Bad der 70er Jahre in Europa, Asien und Südamerika" in der Hansgrohe Aquademie im Schwarzwald. Parallel zu den gewonnen Freiheiten und trotz hoher Arbeitslosigkeit zum Ende der 70er stieg der Wohlstand in der Gesellschaft. Es vollzieht sich ein Wertewandel hin zur Konsum- und Erlebnisgesellschaft, die durch mehr Freizeit gefördert wird. Wenngleich sich die Systeme unterschieden, existiert auch in der DDR zu der Zeit tendenziell eine Konsumorientiertheit mit besserem Konsumgüterangebot und ein Designboom mit der Vorliebe für Orange und Gelb.
Die Ausstellung des Sanitärherstellers und Mitglied des Lateinamerika Vereins Hansgrohe "Das Bad der 70er Jahre“ spürt nach, wie sich der gesellschaftliche Wandel im Bad niederschlägt. „In der BRD ging die neue Freiheit mit einer gesteigerten Nachfrage nach Komfort und Luxus einher“, erläutert Passarge. Neue Lebensstile formten sich durch die sexuelle Revolution, das Auto, das Telefon; und das Bidet zog in das Bad ein. „Das Bidet galt in Westdeutschland als mondän und luxuriös“. „Wir fragten uns, wie das in anderen Teilen der Welt ausgesehen haben könnte, inwieweit das Badezimmer sowohl Motor wie auch Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung sei. Und in Gesprächen mit dem Architekten Matthias Klotz aus Chile oder Budi Pradono aus Indonesien haben wir festgestellt, dass ähnliche Umbrüche nur mit anderen Vorzeichen auf anderen Kontinenten stattfanden.“
Im ländlichen Indonesien waren Bad und Toilette traditionell öffentliche Bereiche. Durch den Ölboom in den 70er Jahren erfährt das Land eine Modernisierung. In Adaption an "The American Dream" spricht man vom "Indonesian Dream", und es entwickelte sich ein neuer Lebensstil, der letztendlich auch die Bad(e)kultur verändert. Das 70er-Statussymbol schlechthin ist der Toilettenspülkasten geworden – auch ohne Wasseranschluss.
Was Chile angeht beginnen Ende der 60er Reformen im Sozial- und Wirtschaftssystem als Reaktion auf das Klima der Veränderung in der Gesellschaft. 1970 folgt die Politik des demokratisch gewählten Sozialisten Allende, der die begonnenen Reformen beschleunigt durchführt. Er verstaatlicht in- und ausländische Unternehmen und 1971 vor allem die Minengesellschaften. 1973 putscht das Militär unter General Pinochets, und die Militärregierung wiederum macht alle Verstaatlichungen rückgängig – außer die der Kupferminen. Die "Chilenisierung des Kupfers" lässt die Steuereinnahmen wachsen und führt 1976 zur Gründung der Codelco, heute der weltgrößte Kupferproduzent. Ungeachtet der oppressiven Militärregierung beschert dieses Mineral Chile einen wirtschaftlichen Aufschwung und bewirkt so letztendlich eine verbesserte Lebenssituation in der Gesellschaft.
Mit der industriellen Entwicklung und der Landflucht wächst die Bevölkerung um die Hauptstadt Santiago schnell an. Es entstehen "informelle Siedlungen", in denen es keine sanitären Einrichtungen gibt. Für den armen Großteil der Bevölkerung in der Peripherie entsteht so die Sanitärzelle bzw. "Lote Con Servicios", eine Parzelle mit Anschluss, die hygienische Verhältnisse herstellt. Eine eigene Wohneinheit - zwei kleine Räume, Bad mit WC, Waschbecken und Duschwanne, Küche mit Spülbecken -, die von den Bewohnern selbst erweitert werden kann. Das löst einen kleinen Heimwerkerboom aus. Die Idee stammt aus den 50er Jahren und wird als Element der sozialen Wohnungsbauprogramme in den 70er Jahren weiterentwickelt.*1
Die internationale Architektur hat auch den chilenischen Wohnungsbau beeinflusst. Luxuriöse Badezimmer, nach westlichem Vorbild mit Bidet, sind auf dem Markt eingeführt worden, bleiben jedoch ein Privileg der Oberschicht. „Alles war "psychedelisch" im Rausch, die Farben, die Musik, vielleicht wünschten wir uns eine tranceartige Stimulanz der Seele und eine Bewusstseinsveränderung, erzählt eine Chilenin aus Santiago. Fliesen waren uns zu teuer und so hatten wir eine abwaschbare Vinyltapete im Bad, die so aussah, als ob man Fliesen hätte – natürlich in euphorisierendem, grellen Orange.“