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Bauen und bleiben

Ferrostaal – ein Stück deutscher Industriegeschichte

Wenn man zwei alte Haudegen und langjährige Mitarbeiter der Ferrostaal AG*1 in Essen über das Unternehmen interviewed, wäre es ziemlich einfach, eine Geschichte aus puren Anekdoten zu schreiben. Sie sprudeln bei Frank Hoffmann und Michael Humann nur so hervor; und man spürt einen "Esprit de Corps". Ein alter Begriff, der hier jedoch passend die persönliche Bindung der Ferrostaaler untereinander beschreibt und die Identifikation mit einem Unternehmen, das einmal als einer der größten Anlagenbauer der Welt galt.

Was denn in den 70er Jahren so bemerkenswert gewesen sei, frage ich beide unabhängig voneinander: „Abgesehen vom Brainstorming bei Kartoffelsalat und Würsten, der unheimliche Zusammenhalt, das Vertrauen der Mitarbeiter untereinander“, so Humann, über viele Jahre Prokurist im Bereich Anlagenbau. „Und die gelebte flache Hierarchie, die vor allem durch den Vorstandsvorsitzenden Dr. Hans Singer*2 geprägt wurde – ein Vorbild für die gesamte Mannschaft“, betont Hoffmann, langjähriger Leiter Presse und Unternehmenskommunikation. „Wenn ich den Vorstandsvorsitzenden sprechen wollte, schaute ich kurz über die Trennwand und fragte, ob er eben Zeit hätte“, ergänzt Humann, „ich brauchte die Sekretärin nicht nach einem Time-Slot zu fragen.“

1977 wird das neue Ferrostaal-Firmengebäude eingeweiht, dessen Planung auf Großraumbüros basierte. Diese Idee hat im Vorfeld viel Abneigung geerntet, um nicht zu sagen, dass sich alle gegen die persönliche Idee Singers gewehrt haben sollen. „Aber Singer war von seinem Plan überzeugt, denn ein Großraumbüro entsprach seiner Vorstellung vom schnellen, flexiblen Handeln und der Förderung des Teamgeistes.“, erzählt Hoffmann. Denn nicht nur die Mitarbeiter hätten im Großraum gesessen, sondern auch der gesamte Vorstand ohne Unterschied. Akustiker seien mit dem Ausgleich des Geräuschpegels beschäftigt gewesen und andere Spezialisten mit der Farbumgebung. Die sollte ausgleichen und beruhigen, damit alle Energien ins Geschäft flössen.

Added Value

Die 70er Jahre gelten als Jahrzehnt der Herausforderungen für Ferrostaal, eine Dekade, in der Ferrostaal als Konsortialführer mehrere Hüttenwerke in Peru, Argentinien, Venezuela, Brasilien und Mexico schlüsselfertig übergibt. Weitere folgen in den 80er Jahren. Viele hunderte deutscher Spezialisten wechselten für Monate die Heimat und repräsentierten Made in Germany im Ausland.

Der Hintergrund dieser Entwicklung ist, das die traditionsreichen lateinamerikanischen Staaten ihre industrielle Entwicklung vorantreiben wollten, um den Anschluss an die "moderne Welt" zu finden. Denn Stahl hieß Aufbau und Arbeitsplätze und eine entsprechende Infrastruktur. Rohstoffe wie Erz waren ausreichend vorhanden, sie mussten nur veredelt werden, um den Gewinn im eigenen Land zu halten und einen Mehrwert daraus zu schöpfen. Eine Investition in die Zukunft also, die zu der Zeit in den Augen der jeweiligen Regierungen die Aufnahme des Kapitals internationaler Gläubiger rechtfertigte.

Ferrostaal hat eine lange Tradition in Lateinamerika; bereits 1923 begannen die ersten Aktivitäten in Argentinien und Peru. Handelsvertretungen vertrieben Maschinen aller Art und später Trolleybusse oder Triebwagen, Handels- und Marineschiffe, U-Boote, und natürlich Stahl. Das heißt Ferrostaal machte Marketing und Vertrieb für Waren Dritter und hat dabei das nicht unerhebliche Export- und Landesrisiko getragen. Die Anfragen zum Anlagenbau kamen später.

„Globalisierung wurde uns in die Wiege gelegt.
Wir waren eine Exportorganisation,
die durch Mitarbeiter, denen eine lange Leine gelassen
wurde, in den 60er Jahren groß geworden ist.“

Michael Humann    

Schlüsselfertige Großanlagen - Turn-Key-Projekte

Das erste Hüttenwerk in Lateinamerika wie auch der Hochofen namens "Teresa" wurden 1968 in Chimbote Peru im Konsortium errichtet. Konsortium bedeutet die kaufmännische, finanzielle Federführung durch Ferrostaal, die technische durch die damalige Konzernmutter Gutehoffnungshütte (GHH) oder über Schloemann Siemag einer Konzernschwester und anderen Beteiligten.

1971 lockt einer der größten Aufträge in der Firmengeschichte. In Venezuela entsteht in der Folge Stück für Stück das größte und modernste Elektrostahlwerk der Welt der Siderurgica del Orinoco C.A., kurz SIDOR. Im ersten Schritt ist ein schlüsselfertiges Werk gebaut worden und im zweiten wurde Ferrostaal Kunde des Hüttenwerkes. „Unser Prinzip war, keinen "Elefanten auf die grüne Wiese" zu setzen - wir bauen und bleiben. Wir ließen den Kunden nicht allein, sondern haben ihm über den Stahlhandel geholfen, die riesigen Mengen auf dem Markt zu verteilen, erläutert Humann. Der Handel brachte auch die nötige Liquidität; der Anlagenbau war sachgemäß seltener und irgendwann war auch "das letzte Stahlwerk" gebaut.

Von der Stahlindustrie zur Petrochemie – von der Auftragsarbeit zur Projektentwicklung

So ist Ende der 80er Jahre bei Ferrostaal ein Umdenken gefordert, der Bedarf der Stahlindustrie Lateinamerikas war gedeckt. Ein unfassbarer Zufall sollte dem Unternehmen zu Hilfe kommen. Die Anekdote lautet so: Einen Sommer fliegt ein Direktor zum Tauchen nach Trinidad & Tobago. Er erkennt die Gasvorkommen auf der Insel und denkt: "Da kann man doch was mit machen."

Zurück in Deutschland entwickeln eine "Hand voll" Mitarbeiter um den Vorstandsvorsitzenden Singer, seinem  Assistenten, 1-2 aus der Finanzabteilung und Juristen aus der Idee ein Konzept, wie man aus dem Gas auf Trinidad einen Mehrwert schöpfen könnte. Es ist die Geburtsstunde des Generalunternehmers und Projektentwicklers Ferrostaal.

1990 wird die erste von sechs Methanol- und Düngemittelanlagen auf der Insel Trinidad gebaut. Der Staat Trinidad & Tobago ist der Gaslieferant, der Bau der Anlage erfolgt durch Ferrostaal und der Firma Proman*3. Das Hamburger Unternehmen Helm*4 wird zum Methanolhändler. Was sich so simpel anhört, besteht aus einer akribischen Arbeit und rund 60 Einzelverträgen.

Aus diesem wagemutigen Vorhaben und dem Vertrauen, dass es einen Markt gibt, sichert sich Ferrostaal die Aufträge für die nächsten Dekaden und markiert den Weg von der Stahlbranche zur Petrochemie, vom Auftragnehmer zum Ideenentwickler.

Yvonne Steiner, BRS Dortmund, Februar 206

*1*3 *4 Langjährige Mitglieder des Lateinamerika Vereins
*2 Vorstandsvorsitzender des Lateinamerika Vereins von 1989-1994
SIDOR in Venezuela 1979 - Das seinerzeit größte Elektrostahlwerk der Welt
Quelle/Rechte: Unternehmensarchiv Ferrostaal
SIDOR in Venezuela 1979 - Das seinerzeit größte Elektrostahlwerk der Welt
1980: Frank Hoffmann (re.) mit Dr. Hans Singer (li.) langjähriger Vorstandsvorsitzender der Ferrostaal AG wie auch Vorsitzender des Lateinamerika Vereins von 1989-1994
Quelle/Rechte: Frank Hoffmann
1980: Frank Hoffmann (re.) mit Dr. Hans Singer (li.) langjähriger Vorstandsvorsitzender der Ferrostaal AG wie auch Vorsitzender des Lateinamerika Vereins von 1989-1994

Warum lateinamerikanische U-Boot-Mannschaften Kieler sind ...

... erzählt Michael Humann

Chilenische Marine-Offiziere 1983 in Kiel
Chilenische Marine-Offiziere 1983 in Kiel

Geburtstagswünsche aus der Ferne in "Habacht" ...

... es erinnert sich Frank Hoffmann

Frau Nidia Quintero Turbay (Mitte) 1982 in Kiel beim Stapellauf zweier Korvetten.
Quelle/Rechte: mit freundlicher Genehmigung von Frank Hoffmann
Frau Nidia Quintero Turbay (Mitte) 1982 in Kiel beim Stapellauf zweier Corvetten.
Die Entourage der Präsidentengattin 1982 - links der Verteidigungsminister Kolumbiens Luis Carlos Camacho Leyva mit seiner Gattin
Quelle/Rechte: mit freundlicher Genehmigung von Frank Hoffmann
Die Entourage der Präsidentengattin 1982 - links der Verteidigungsminister Kolumbiens Luis Carlos Camacho Leyva mit seiner Gattin.

Diamonds are Forever ...

... erzählt von Michael Humann