Politik und Gesellschaft

Diskutieren wir nicht über die Sterblichkeit der Seele, diskutieren wir über den Hunger*1

Die Befreiungstheologie zwischen Seelsorge und politischem Engagement

Hunger bestimmt das Leben eines Großteils der lateinamerikanischen Landbevölkerung auch in den 60er Jahren. Es ist die Zeit der Post-Kubanischen Revolution, des kalten Krieges, des Prager Frühlings, der Studentenrevolten wie auch eine der zwei Dekaden, in denen einige Staaten Lateinamerikas von Militärs regiert werden. Eine Zeit der Gewalt und Unterdrückung, die oftmals ebenso mit einer Spirale von Gewalt, mit Rebellion und Revolutionsversuchen beantwortet wird.

In diesem Kontext der politischen und sozialen Unruhen melden sich immer mehr lateinamerikanische Bischöfe als sozialkritisches Sprachrohr. Sie wollen nicht mehr nur mildtätig, seelsorgerisch beistehen*2, sondern sich aktiv sozialpolitisch in die Gesellschaft einbringen.

Es entwickelt sich eine Richtung der christlichen Theologie, die sich ab ca. 1971 Befreiungstheologie*3 nennt, die sich im Kern auf die sozialpolitischen Aussagen in der Bibel stützt – ein Impuls für explosive Gesellschaftskritik und Veränderung innerhalb und außerhalb der Kirche. „Ich bin kein Hirte der Seelen, ich bin Hirte der Menschen", soll Hélder Câmara gesagt haben. Der Weihbischof von Rio und spätere Erzbischof von Olinda und Recife, der laut Nachruf in der NZZ 1999*4 mit Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Albert Schweitzer zu den Persönlichkeiten zähle, die “ „das soziale Bewusstsein des (20.) Jahrhunderts bleibend geprägt haben“, ist einer der Pioniere dieser Befreiungstheologie.

Dom Hélder Câmara

Der Menschenrechtler und Regimekritiker Câmara, Mitbegründer der Brasilianischen Bischofskonferenz und deren Generalsekretär bis 1964, ist ein unermüdlicher Organisator. Erschüttert über die Lebensbedingungen in den Elendsvierteln, setzt er sich tatkräftig für bessere Wohnungen und für die Erwachsenenbildung ein, gründet die „Radioschulen“ und die „Banco da Providencia“, eine Bank für die Armen. Durch seine Fernsehpredigten erlangt er große Popularität; er spricht Klartext. Nach dem Militärputsch 1964 werden seine gewaltlosen Reformbemühungen stark eingeschränkt. Die „prophetische Bischofsgestalt“ wird u.a. mit einem Pressebann belegt, also „totgeschwiegen“. Der mutige Erzbischof, auf den mehrere Attentate verübt werden, lässt sich jedoch den Mund nicht verbieten.

1970 nutzt er seinen Aufenthalt in Paris, um im Palais des Sports vor 10.000 Zuschauern auf die Verletzung von Menschenrechten in seiner Heimat aufmerksam zu machen. 1973 wird er für den Friedensnobelpreis nominiert, den er allerdings nicht erhält. 1974 ist es der alternative Friedenspreis, der sein Engagement würdigt.

Camilo Torres Restrepo

Eine Rebellion radikalerer Art zeichnet einen anderen Protagonisten der Befreiungstheologie aus. Es ist das Leben des jungen Camilo Torres Restrepo aus Kolumbien, das den Stoff für Literatur und Film liefert. „Er war ein gutaussehender, lebensfroher junger Mann und sehr beliebt. Sein Vater war zeitweilig sogar Konsul in Berlin und später Rektor der Universität“, erzählt ein deutscher Freund der Familie. Stundenlang sei im Elternhaus von Camilo Torres diskutiert worden. Der Junge sollte endlich Vernunft annehmen und aufhören, die Studenten zum Kampf gegen die herrschende Bourgeoisie aufzurufen, der er ja selbst angehörte.

Denn der 1954 geweihte Priester, der nach dem Studium der Theologie noch ein Soziologiestudium in Belgien anschließt, wird 1959 Studentenpfarrer an der „Universidad Nacional“ in Bogota und dort Mitbegründer der soziologischen Fakultät. Hier radikalisiert er sich immer mehr, gänzlich enttäuscht, dass seine Bemühungen für eine Beseitigung der Abhängigkeiten der armen Bevölkerung, nicht die erhoffen Früchte trugen. Es heißt, dass er von allen Seiten bekniet worden sei. Aber er habe sich immer mehr verschlossen und sei Argumenten gar nicht mehr zugänglich gewesen, so die einhellige Meinung aus dem Umfeld der Familie.

1964 gründet sich die linke Guerrillaorganisation ELN (Ejercito de Liberación Nacional) in Kolumbien, der sich Camilo Torres 1965 in seiner Ausweglosigkeit anschließt und sein Ornat mit der Uniform tauscht, wobei er Priester bleibt. 1966 fällt er in seinem ersten Gefecht.

Weder Hélder Câmara noch Camilo Torres sehen den Kommunismus als Problemlöser. Torres lehnt ihn entschieden ab, wie er in „Mensaje a los Comunistas“, seiner Botschaft an die Kommunisten in der Zeitschrift „Frente Unido“ vom 02.09.1965 bekräftigt*5. Beide Symbolfiguren haben sich der Sache der Armen verpflichtet und setzen sich mit ganzer Kraft im Sinne der christlichen Nächstenliebe für eine gerechtere und humanere Welt ein, suchen neue Wege - der eine gewaltfrei, der andere zuletzt mit militärischen Mitteln.

Yvonne Steiner, BRS Dortmund, 2015

*1 „…denn der führt ganz sicher zum Tod. Wenn wir den Hunger besiegt haben, können wir über die Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Seele sprechen.“ Y. Steiner frei übersetzt nach Camilo Torres
*2 Assistentialismus
*3 Zurückgeführt wird der Name auf den peruanische Bischof Gustavo Gutierrez mit seinem Buch Teología de la liberación.
*4 “Mach aus Gott nicht Dein Kopfkissen...” von Prof. Dr. Dr. Mariano Delgado, NZZ am 30.08.99, Seite 28
*5 „Los comunistas deben saber muy bien que yo tampoco ingresaré a sus filas, que no soy ni seré comunista, ni como colombiano, ni como sociólogo, ni como cristiano, ni como sacerdote.” Zitat C. Torres Quelle: Escuela de filosofia, Oviedo, Espana, www.filosofia.org  2004
Quellenhinweise:
Adveniat: Blickpunkt-Lateinamerika: Dom Hélder Câmara
Archiv Neue Züricher Zeitung
Universität Freiburg, Schweiz
bpb.de    
Dom Helder Camara
Quelle: Adveniat
Dom Helder Camara
"Helder Camara 1981"
by Antonisse, Marcel / Anefo - [1] Dutch National Archives, The Hague, Fotocollectie Algemeen Nederlands Persbureau (ANEFO), 1945-1989, Nummer toegang 2.24.01.05 Bestanddeelnummer 931-7341. Licensed under CC BY-SA 3.0 nl via Wikimedia Commons
"Helder Camara 1981"
Camilo Torres mit kolumbianischen Landarbeitern
Quelle: Camilo Torres con campesinos colombianos" by Cristianismo y Revolución - Cristianismo y Revolución Nº 8. Licensed under Public Domain via Wikimedia Commons -
Camilo Torres mit kolumbianischen Landarbeitern