KULTUR

Adieu Korsett!

Die neue Frau von Europa bis Lateinamerika und die soziale Revolution hinter der Silhouette

Die 20er Jahre sind weltweit eine Zeit des Aufbruchs voller politisch-gesellschaftlicher Ereignisse, in der man sich von vom Kaiserreich verabschiedet. Eine Zeit, in der man wörtlich alte Zöpfe abschneidet und eine Zeit, auf die die Mode seismographisch reagiert. Das bedeutet zwangsläufig auch die emanzipierte Frau, die in Europa während und nach dem ersten Weltkrieg aus der Not heraus auf einmal Berufe ausüben darf, die bis dahin nur den Männern vorbehalten waren. Die „Neue Frau“ verdient ihr eigenes Geld und steht auf eigenen Füßen, sie tanzt, trinkt raucht und darf in Deutschland wählen und gewählt werden. Revolutionär, dieses weibliche Selbstverständnis von der Trendsetterin bis zur Tippmamsell!

Modisch ist es die Ära von Coco Chanel, Jean Patou und Jeanne Lanvin. Vor allem aber war es der französische Designer Paul Poiret, der die Frauen im doppelten Sinne von ihren Zwängen befreite, als er 1909 seine Mode ohne Korsett entwickelte*1. Und nicht nur in Europa. Der technische Fortschritt, d.h. die neuen Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten, lassen die europäisch-lateinamerikanische Gesellschaft nicht lange auf diese neue europäische Modewelle warten. Die alte und die neue Welt sind nicht nur familiär, sondern nun auch technisch vernetzt. In Berlin soll es Mitte der 20er Jahre eine halbe Millionen Telefonanschlüsse gegeben haben.

Die Polemik war diesseits und jenseits des Atlantiks groß: die Kleider rutschten immer weiter nach oben bis zum Knie, und die Frau wurde gemäß vieler Zeitgenossen allzu männlich. Sie bedient sich der Garderobe des Mannes und wird viel zu selbständig. Sie trägt sogar Herrenpyjamas und Hosenanzüge zum Bubikopf und monokelt auf dem Höhepunkt der Garçonne-Mode 1925. Die Frauen zeigen „keinen Anstand mehr“.

In Chile publiziert „El Mercurio“, der bis heute in Santiago de Chile erscheinenden Tageszeitung, im März 1920 folgende Stimme: "

Es ist unglaublich was für kurze Röcke unsere Mädchen tragen, die die Beine bis zu den Knien zeigen, die nicht immer sehr hübsch sind. Und in diesem Fall ist die Kürze der Röcke ein Fiasko. Die Kürze zeigt, was niemand sehen möchte. Die taktvollen Mädchen, die echten Fräulein, die Mütter haben, die ihnen den rechten Weg zu weisen wissen, nutzen Röcke in angemessener Länge und Weite. Das ist immer eleganter als die, die die Scham verlieren und eine Mode mitmachen, die ihnen nicht ansteht. Eine traurige Angelegenheit!”*2

In Deutschland tituliert die Berliner Illustrierte Zeitung am 29.03.1925 „Nun aber genug!“*3 und sieht „das launische Spiel der Frauenmode“ als „peinliche Verirrung“ an. Der letzte Schrei wird als Vermännlichung der Frau angeprangert und festgestellt, dass es nun höchste Zeit sei, dass sich „der gesunde männliche Geschmack gegen solche üblen Moden wendet“. Erfreulich sei jedoch, dass zumindest die Silhouette der Nachmittags- und Abendroben weicher, femininer und anspruchsvoller ausfielen. Dennoch liegt die Betonung auf der Schulterpartie und nicht auf der Taille, die allerdings nur kurzfristig der Vergangenheit angehört.

Diese kniekurzen Kleider aus weich fallenden Stoffen, ohne einengendem viktorianischen oder edwardianischen Korsett, lassen nicht nur zum Arbeiten ausreichend Bewegungsfreiheit, sondern auch zum Tanzen. Denn die Welt ist nach dem Shimmy im Charleston-Fieber und gibt sich wild ekstatisch dem Tanzvergnügen hin, ohne an den nächsten Morgen zu denken.

Nach dem 2. Weltkrieg erleidet die Emanzipation einen Rückfall, wobei jedoch die Frauen danach nur noch freiwillig das Korsett anlegen.

Yvonne Steiner, BRS Dortmund

*1 Victoria and Albert Museum „The Corset in late 20th century fasion“
*2 www.nuestro.cl/notas/rescate/moda...
*3 BIZ, Nr. XX, 29.3.1925 - Artikel: Nun aber genug! Gegen die Vermännlichung der Frau. Quelle: Chronos-Media Film „Weltbühne Berlin “  
Weibliche Fensterputzer, Berlin, ca. zwischen 1915 und 1920. Teil der “George Grantham Bain Collection” (Library of Congress, USA).
Quelle: The Commons
Weibliche Fensterputzer, Berlin, ca. zwischen 1915 und 1920